Familie kann man sich nicht aussuchen... oder doch?

zurück

Nicht jeder hat das Glück, Verwandtschaft in unmittelbarer Nähe zu haben. Die Gründe dafür sind vielfältig. Ein Lübecker Verein bringt Menschen zusammen, die sich nach familiärem Zusammenhalt und Geborgenheit sehnen.

Als die 63-jährige Rentnerin Brigitta vor knapp einem Jahr in der Küche steht und einen Schokokuchen backt, kommt sie ins Grübeln: „Wie schön wäre es doch, diese Momente mit Enkelkindern zu teilen.“ Auch ihr Bruder Norbert vermisste den Umgang mit Kindern. Und da kam ihnen die Idee: Sie würden endlich Kontakt zu Claudia Bolte vom Verein Wahlverwandtschaften Alt & Jung in Lübeck aufnehmen. Der Verein baut Brücken zwischen den Generationen, indem er Paten-Großeltern an junge Familien vermittelt. Neben großer räumlicher Trennung sind auch Trennung, Scheidung oder Tod Gründe dafür, dass familiäre Bande abreißen.

„Es hat einfach gepasst“
„Plötzlich ging alles ganz schnell“, erinnert sich Brigitta zurück. „Bereits im Februar hat Frau Bolte für uns eine Familie gefunden. Wir haben sofort eine Nachrichtengruppe namens Herzensmenschen gegründet – ohne, dass wir uns überhaupt kannten.“ Im März trafen sich die frischgebackenen Paten-Großeltern das erste Mal mit Familie Dallmann. „Es hat einfach gepasst. Wir haben uns gesehen und sofort ins Herz geschlossen“, blickt Norbert zurück. Inzwischen sehen die beiden „ihre“ Enkelinnen Annabell (6) und Alina (1) mindestens ein Mal in der Woche, um gemeinsam zu spielen, Eis zu essen oder im See zu baden. Dinge, für die Eltern im turbulenten Alltag oft wenig Zeit haben. „Großeltern können in der Regel mehr Zeit aufbringen und in stressigen Situationen gelassener reagieren, weil ihr Leben einen anderen Rhythmus hat“, so Bolte. Das weiß auch die kleine Annabell zu schätzen: „Sie spielen mit mir Playmobil und wir kuscheln ganz viel. Ich durfte auch schon bei Oma Brigitta schlafen.“

Wie echte Großeltern
Auch Paten-Opa Norbert freut sich: „Nicht nur mit Annabell und Alina ist das Verhältnis so vertraut. Auch ihre Mutter Melanie ist für mich wie eine Tochter geworden.“ Die 37-Jährige musste 2018 einen schweren Schicksalsschlag hinnehmen. Der Tod ihrer eigenen Mutter hat eine große Lücke hinterlassen. „Unsere Oma – meine Mutter – hat uns einfach so sehr gefehlt. Großeltern holen einen auf den Boden zurück, sie ‚erden‘ einen. Dieses Gefühl wollten wir wiederhaben“, erzählt Melanie. „Brigitta und Norbert geben uns genau dieses Gefühl – wie echte Großeltern. Sie strahlen Ruhe aus und sind eine wertvolle Unterstützung.“ Die Wahlfamilie ist inzwischen sogar so vertraut, dass es demnächst in den gemeinsamen Urlaub an die südliche Ostseeküste geht. Abschließend hat Brigitta noch einen Wunsch: „Wir hoffen, dass wir die Kinder aufwachsen sehen und unsere Verbindung ewig hält.“

Wie alles begann...

Mit fünf Kindern, aber ohne Großeltern in der Nähe, rief Claudia Bolte 2008 das Projekt „Alt & Jung“ ins Leben. „Ich habe damals festgestellt, dass ich mit meiner familiären Situation nicht alleine bin. Dass Alt und Jung Zeit miteinander verbringen, war früher selbstverständlich. Heute wohnt die eigene Verwandtschaft oft weit weg oder es besteht kein Kontakt mehr“, erklärt die Gründerin. Seither hat der gemeinnützige Verein 150 Partnerfamilien zusammengebracht. Mit ihrem Fahrrad, das von der Gemeinnützigen Sparkassenstiftung finanziert wurde, besucht die Lübeckerin interessierte Eltern und Großeltern zu Hause, um sie persönlich kennenzulernen. Von St. Jürgen über Kücknitz bis nach Travemünde. „Bei so vielen Wahlfamilien kommt da eine ordentliche Strecke zusammen. 30.000 km bin ich mit dem Fahrrad schon abgefahren“, erzählt Bolte lachend. „Aber nur so kann ich anschließend die ‚richtigen‘ Menschen miteinander in Kontakt bringen. Schließlich sollen beide Seiten voneinander profitieren.“

Weitere Informationen unter:
www.wahlverwandtschaften-luebeck.de

Stimmen zum Projekt